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Ralph Ossa: Die WTO steht am Scheideweg, auch was die Globalisierung insgesamt angeht. Wir müssen aufpassen, nicht das kaputtzumachen, was wir uns über Jahrzehnte aufgebaut haben.
Ralph Ossa: Das Narrativ hat sich um 180 Grad gedreht. Bis vor Kurzem waren sich alle mehr oder weniger einig darüber, dass wirtschaftliche Verflechtung eine gute Sache ist. Sie ist wichtig für Wohlstand und Sicherheit. Gerade wir Deutschen wissen das. Die ganze Idee der europäischen Integration war ja, dass sich Deutschland, Frankreich und andere Länder miteinander verflechten, eben weil es geopolitische Spannungen gab. Diese Philosophie hat sich lange gehalten. Auch der Beitritt Chinas zur WTO hat in diesem Geist stattgefunden. Doch dann kamen die Finanzkrise, die Corona-Pandemie und der Krieg in der Ukraine. Diese Krisen haben den Eindruck entstehen lassen, dass wir zu viel Globalisierung ausgesetzt sind, dass die Globalisierung zu riskant ist für uns und dass wir das Rad wieder ein Stück weit zurückdrehen müssen. Jetzt geht es nicht mehr um wirtschaftliche Verflechtung, sondern um wirtschaftliche Unabhängigkeit.
Ralph Ossa: In der Corona-Krise haben wir gemerkt, dass wir zum Teil abhängig vom Ausland sind, etwa bei der Lieferung von Schutzmasken und Beatmungsgeräten. Der Ukrainekrieg legte die Abhängigkeit von russischem Gas offen, um nur zwei Beispiele zu nennen. Daraus folgerten viele Menschen, dass es ohne Globalisierung besser gelaufen wäre. Doch diese Schlussfolgerung ist falsch. Wir sind nur dank des Handels einigermassen gut durch die Pandemie gekommen. Es kam zu einem Boom, weil sich die Leute plötzlich ihr Homeoffice einrichteten. Für die Herstellung und Verteilung der Impfstoffe brauchte es globale Lieferketten. Der Handel war also eine Quelle der Resilienz.
Ralph Ossa: In Teilen der Öffentlichkeit herrscht die Anspruchshaltung, dass man von irgendwelchen Krisen doch bitte schön nichts mitbekommen sollte. Dies schürt den Wunsch nach Abschottung, die im Ergebnis allerdings kontraproduktiv wäre.
Ja, leider. Die Globalisierung ist eine Art Sündenbock. Es ist politisch immer einfacher, wenn die anderen schuld sind an einer Misere und nicht man selbst.
Ralph Ossa: Ja, da sehen wir heute deutliche Spannungen. Der Handelskonflikt zwischen China und den USA ist dafür das offensichtlichste Beispiel. Ein grosser Teil des bilateralen Handels zwischen diesen beiden Ländern ist mit Zöllen belegt. Es gibt aber noch viele weitere Massnahmen, die andere Länder als protektionistisch wahrnehmen. All das bremst letztlich den globalen Warenaustausch.
Ralph Ossa: Viele dieser Subventionen zielen darauf, das Klima zu schützen und die Wirtschaft grüner zu machen. Das ist zunächst einmal eine gute Sache. Allerdings wird oft nicht berücksichtigt, welche Folgen diese Massnahmen für das regelbasierte multilaterale Handelssystem haben. Allein der Eindruck, dass WTO-Regeln gebrochen werden, ist schon ein grosses Problem für uns. Unsere Regeln entfalten schliesslich nur dann Wirkung, wenn die Wirtschaftsakteure davon überzeugt sind, dass diese Regeln auch wirklich gelten.
Ralph Ossa: Ja, das ist genau das Problem. Der Klimawandel wird nur dann vernünftig zu bekämpfen sein, wenn die Türen offen bleiben. Der Handel dient dazu, die grünen Technologien in der Welt zu verbreiten und deren Wirksamkeit zu verstärken. Es gibt ja nicht nur wirtschaftliche Handelsgewinne, die daraus resultieren, dass Länder auf Feldern produzieren, in denen sie relativ stark sind. Es gibt auch einen komparativen Vorteil in Umweltfragen, weil manche Länder bestimmte Sachen emissionsintensiver produzieren als andere. Es wäre dumm, diesen Hebel auszuschalten.
Ralph Ossa: Ja, schon, aber die Frage ist, wie weit man das sogenannte De-Risking treiben sollte. Schauen Sie, die Welt steht vor drei grossen Herausforderungen: Wir müssen eine nachhaltige Wirtschaft schaffen, Armut und Ungleichheit reduzieren sowie Sicherheit und Frieden bewahren. Für alle drei dieser Herausforderungen ist es wichtig, den Handel als Teil der Lösung anzusehen. China ist seit dem WTO-Beitritt im Jahr 2001 wirtschaftlich unglaublich stark gewachsen. Das hat zu Problemen im amerikanischen Arbeitsmarkt geführt, das will ich nicht kleinreden. Aber letztlich sind so Hunderte Millionen Menschen der Armut entkommen. Der Erfolg Chinas wirkt motivierend auf andere Entwicklungsländer, die gemerkt haben, dass es Wege gibt, aus der Armutsfalle herauszufinden. Selbst die Ungleichheit zwischen den Ländern dieser Welt ist zuletzt zurückgegangen. Das wäre ohne den Handel nicht passiert.
Ralph Ossa: Einen politischen Wandel innerhalb eines Landes herbeizuführen ist nicht das Mandat der WTO. Aber ich verstehe natürlich den Wunsch vieler WTO-Mitglieder, die Regeln der WTO so anzupassen, dass sie einer protektionistischen Staatswirtschaft entgegenwirken. Über die Rolle des Staates in der Wirtschaft gibt es Gesprächsbedarf.
Ralph Ossa: Wenn es zu einer geopolitisch motivierten Fragmentierung käme und die Weltwirtschaft in einen östlichen und einen westlichen Block zerfiele, zöge das Realeinkommensverluste von durchschnittlich 5,4 Prozent nach sich, wobei das Minus in Entwicklungsländern noch deutlich höher wäre. Ohne ein multilaterales regelbasiertes Handelssystem regiert das Recht des Stärkeren. Damit könnten die USA, China und die EU vielleicht noch leben. Aber für kleine Länder wäre das ein grosses Problem, auch für die Schweiz.
Ralph Ossa: Wenn das neue Mantra "Gegeneinander statt miteinander" lautet und Regeln nicht mehr respektiert werden, dann ist die WTO in ihrer Existenz bedroht.
Ralph Ossa ist Professor am Department of Economics und derzeit als Chefökonom der Welthandelsorganisation beurlaubt. Er hat die Kühne-Stiftungsprofessur für internationalen Handel inne und ist Direktor des Kühne-Zentrums für nachhaltigen Handel und Logistik.
Gekürzter Nachdruck mit Genehmigung
"Die WTO steht am Scheideweg" (Frankfurter Allgemeine Zeitung, 01.09.2023, Nr. 203, S. 18, Johannes Ritter).
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