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Department of Economics

Ohne Arbeit, ohne Hoffnung? Ein Umdenken bei der Langzeitarbeitslosigkeit

In seiner Antrittsvorlesung an der Universität Zürich stellte Andreas I. Mueller – der im Juni 2024 seine Stelle als Professor für Makroökonomie und Arbeitsmärkte an unserem Department angetreten ist – seine Forschungsagenda und eine Auswahl aktueller Projekte vor.

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Warum bleiben manche Menschen monatelang oder sogar jahrelang arbeitslos, während andere schnell eine neue Stelle finden? Können wir vorhersagen, wer einem Risiko für Langzeitarbeitslosigkeit ausgesetzt ist – und sollten wir früher, intelligenter und gezielter eingreifen? Diese Fragen sind nicht nur für die Wissenschaft von Interesse, sondern von zentraler gesellschaftlicher Bedeutung. Die Ursachen von Langzeitarbeitslosigkeit zu verstehen und wirksame arbeitsmarktpolitische Massnahmen zu entwickeln, ist essenziell – nicht nur für wirtschaftliche Effizienz, sondern auch für sozialen Zusammenhalt und individuelle Würde.

In seiner Antrittsvorlesung an der Universität Zürich stellte Andreas I. Mueller – der im Juni 2024 seine Stelle als Professor für Makroökonomie und Arbeitsmärkte an unserem Department angetreten ist – seine Forschungsagenda und eine Auswahl aktueller Projekte vor. Basierend auf umfangreichen Datensätzen, verhaltenswissenschaftlichen Erkenntnissen und politischen Evaluationen aus verschiedenen Ländern, vermittelte Mueller eine klare Botschaft: Langzeitarbeitslosigkeit ist keine Falle an sich, sondern spiegelt eine tiefe Heterogenität in den Jobaussichten der Menschen wider. Seine Arbeit stellt gängige Vorstellungen in Frage und eröffnet neue Wege für evidenzbasierte Politikgestaltung.

Was treibt Langzeitarbeitslosigkeit an?

Ausgangspunkt von Muellers Vortrag war die ernüchternde Realität, dass in vielen OECD-Ländern, einschliesslich der Schweiz, über 50 % der Arbeitslosen langzeitarbeitslos sind, das heisst: Sie sind seit mehr als sechs Monaten nicht mehr beruflich aktiv. Das ist von Bedeutung, denn je länger jemand arbeitslos ist, desto schwieriger wird die Rückkehr in den Arbeitsmarkt. Aber warum ist das so? Liegt es daran, dass Arbeitslosigkeit an sich zu einem Verlust von Fähigkeiten, Selbstvertrauen und Netzwerken führt? Oder liegt es daran, dass diejenigen, die arbeitslos bleiben, von Anfang an schlechtere Chancen haben, eingestellt zu werden?
Diese Unterscheidung ist entscheidend. Wenn Langzeitarbeitslosigkeit vor allem eine Falle ist, dann sollten wir Menschen unterstützen, die bereits länger keine Arbeit mehr ausüben. Wenn dies jedoch grösstenteils das Resultat einer Selektion ist, weil bestimmte Personen systematisch schlechtere Chancen haben, dann sollten Interventionen deutlich früher angesetzt werden. Muellers Forschung liefert Belege für Letzteres.

Zwei Sichtweisen, ein Datenproblem

In üblichen Arbeitsmarktdaten sehen wir meist nur, ob und wann jemand eine Arbeit findet – nicht aber, wie wahrscheinlich dies zu einem bestimmten Zeitpunkt war. Das erschwert die Unterscheidung zwischen der «Falle»- und der «Selektion»-Hypothese. Mueller nutzt eine Reihe empirischer Strategien, um dieses Problem zu umgehen.
Im Rahmen eines Forschungsprojekts fragte Mueller Arbeitslose, wie wahrscheinlich sie es selbst einschätzen, in den nächsten drei Monaten einen Job zu finden. Die Antworten fielen sehr unterschiedlich aus und vor allem, sie sagten die tatsächlichen Vermittlungserfolge sehr genau voraus. Darüber hinaus blieben die Selbsteinschätzungen im Zeitverlauf stabil, was darauf hindeutet, dass die Jobaussichten der Menschen eher festgelegt sind, statt sich mit der Dauer der Arbeitslosigkeit zu verändern.

Jobaussichten mit Daten vorhersagen

In einem anderen Projekt basierend auf umfangreichen schwedischen verwaltungsbezogenen Daten, setzten Mueller und seine Kollegen ein maschinelles Lernverfahren ein, um die Wahrscheinlichkeit einer Wiederbeschäftigung aus Hunderten von Variablen – von Erwerbsbiografien bis zu Vermögenswerten – zu prognostizieren. Das Ergebnis: Die Unterschiede in den Wiedereinstiegschancen sind gewaltig – und bereits zu Beginn der Arbeitslosigkeit sichtbar. Nach Muellers Schätzungen lassen sich 88 % des Rückgangs der Vermittlungsquote über die Zeit durch Selektion erklären, nicht durch die Dauer der Arbeitslosigkeit an sich.

Diese Erkenntnis stellt die gängige Erzählung auf den Kopf: Langzeitarbeitslose sind nicht zwangsläufig Opfer einer Abwärtsspirale. Vielmehr starten sie oft mit geringeren Chancen – und bleiben einfach länger arbeitslos, weil sie zu jenen gehören, die den Arbeitsmarkt nicht schnell wieder verlassen.

Arbeitsmarktpolitik neu denken

Wenn wir vorhersagen können, wer gefährdet ist – sollten wir dann danach handeln? Viele Länder tun das bereits. Statistische Profiling-Verfahren halten zunehmend Einzug in den öffentlichen Arbeitsvermittlungen: Algorithmen identifizieren Personen mit hohem Risiko für Langzeitarbeitslosigkeit, die dann Beratung, Schulungen oder intensivere Unterstützung erhalten. Doch funktioniert das?

In einem laufenden Projekt in Belgien untersucht Mueller die Wirksamkeit solcher Massnahmen – und ob sie den Zielgruppen tatsächlich nützen. Mithilfe eines natürlichen Experiments und Verwaltungsdaten kommt er zu einem überraschenden Ergebnis: Die am stärksten gefährdeten Personen profitieren kaum von Beratungsangeboten zur Jobsuche. Stattdessen reagieren vor allem besser gestellte Arbeitssuchende – die ohnehin bessere Chancen haben – positiv.

Das wirft eine provokante Frage auf: Sollten wir Interventionen nicht nur nach dem Risiko, sondern auch nach der zu erwartenden Wirksamkeit ausrichten? Mit anderen Worten: Nicht nur fragen «Wer braucht Hilfe am dringendsten?», sondern auch «Wer profitiert am meisten von der Hilfe, die wir anbieten können?».

Muellers Forschung liefert wichtige Antworten auf drängende arbeitsmarktpolitische Fragen – sie zeigt aber auch, wie viel wir noch nicht wissen. Weitere evidenzbasierte Studien sind nötig, um besser zu verstehen, wie Menschen wieder in Arbeit kommen, wer von welchen Unterstützungsformen profitiert und wie wir als Gesellschaft auf Arbeitslosigkeit reagieren können – datenbasiert und inklusiv zugleich.

Video der Vorlesung

Andreas Muellers Webseite

Maura Wyler-Zerboni (Text) & Christopher Shenton (Bild)

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